Auf dem Weg nach Hamburg

Friedel, Hans und ihr „Großer Bruder“ Martin, wahrscheinlich 1937.

Wenige Tage nach meiner Rückkehr aus Mainz-Kastel wurde mein Bruder Hans nach Bayern verschickt. Mutter stillte Eva immer noch und Vater wurde krank, sodass wiederum alles an mir hängen blieb. Friedel und Liesel mussten in den Kindergarten gebracht werden. In die Schule konnte ich kaum noch gehen.

Die Wohnung war zu klein geworden. Mit fünf Kinder schliefen wir in einem Zimmer, die Eltern im Wohnzimmer. Das Jugendamt hat uns schließlich eine Vierzimmerwohnung in der Holsteinstraße besorgt. Eine neue Wohnung, aber die alte Misswirtschaft.

Unser Ernährer wollte gerne seine eigene Schneiderwerkstatt haben oder wenigsten privat arbeiten. Heimarbeit bedeutete für mich zusätzliche Arbeit. Es fehlte immer etwas im Hause, oder in der Schneiderstube. Dann hieß es: „Martin lauf mal! Hol mal den Stoff ab! Hol mal eben was zu trinken! Ich habe keine Zigaretten mehr!“ An Schularbeiten war gar nicht zu denken, beim Abendbrot bin ich am Tisch eingeschlafen.

„Aber ich muss noch meine Aufgaben machen“, gähnte ich. „Ach was, ich schreib dir eine Entschuldigung“, hieß es dann. Dann kam aber der Brief von der Schule: „Durch die vielen Fehltage ist eine Benotung, nicht möglich. Eine Versetzung, in die nächste höhere Klasse kann nur auf Probe erfolgen!“ Großes Lamento des Erziehungsberechtigten: „Nun reiß dich mal am Riemen und mach mir keine Schande.“

Wieder hatte ich die Schuld, dabei hatte ich weit über die Hälfte der Schulzeit aus häuslichen Gründen fehlen müssen. Und das sollte sich auch in der Zukunft nicht ändern. Zu allem Überfluss kam von der Schulbehörde noch eine Anweisung, dass ich die Schule wechseln müsse, wegen Gebietsüberschneidungen. Ich war wieder einmal der Neue und hatte Gelegenheit, meiner Pädagogensammlung ein weiteres Prachtexemplar hinzuzufügen.

Dieser hier war ein Unikum und wurde von furchtbaren Launen geplagt, die er direkt an uns Schüler weitergab. An einem Tag hatte er nur Spaß in den Sinn, am nächsten gab es furchtbare Strafen. Mit einem Holzlineal auf die offene Hand schlagen machte er offenbar mit Begeisterung.

In der zweiten Stunde war immer Vorlesen angesagt. Unser Pädagoge hielt dann nämlich Frühstück. Ein großes, rot kariertes Tuch wurde auf dem Pult ausgebreitet und dann Brot, Wurst, Senf, und Gurke aufgetragen. Alles wurde mit dem Taschenmesser fein säuberlich zerteilt, aufgespießt und in den Mund geschoben. Beim Kauen rutschte dann sein Kneifer immer weiter die Nase herunter. Eines Morgens kam es wie es kommen musste. Seine Augengläser fielen in den Senf. Die ersten Schüler prusteten los, hatten aber einen schlechten Tag erwischt. Seine Augen rollten wie wild, er schnappte er sich das Lineal und ging Schläge verteilend durch die Klasse.

Wieder am gedeckten Tisch wurden die Fingernägel gereinigt, mit demselben Messer versteht sich. Wir mussten immer weiter vorlesen, aber unser Lehrer schien in einer ganz anderen Welt zu sein. Jetzt wurde die Nase geputzt, was sage ich, generalgereinigt. Mit Trompetengeräuschen wurde sich ausgeschnäuzt und dann das auf genaueste untersucht. Dann waren der Hals und die Kehle an der Reihe. Räuspern, Hüsteln und den Spucknapf benutzen beendete das Frühstück. War das wichtig und lehrreich?

Die Frage stellte ich mir immer öfter auch zuhause. Was ich vom Vater mitbekam, wollte ich keinesfalls so machen. Sicher hatten wir auch schöne Stunden mit dem Familienoberhaupt, aber nur wenn etwas zu rauchen vorrätig war. Aber wehe, wenn nicht. Wir Kinder haben auf alles verzichten müssen, unser Alter aber bestand auf seine Zigarette. Alle hatten Angst, wenn der Tabak alle war. Alle bezogen dann Prügel, auch die Mutter. „Da war doch gestern noch ein Groschen in dieser Tasche. Wo ist der geblieben? „Mutter hat sich heimlich 10 Pfennig von der Nachbarin geborgt. Dann musste ich wieder los, vier Glimmstängel holen. Der Laden, wo es für einen Groschen vier Junos gab, war weit weg. Bei den umliegenden Krämern gab es nur drei dafür.

Als ich wieder einmal beim Schuster war, um meine Sohlen erneuern zu lassen, machte der mir Vorwürfe, dass ich meine Schuhe nicht genug schonen würde und so meinen armen Eltern unnötige Kosten verursache. Da habe ich dem Mann ein wenig über meine Einkaufsexpeditionen und Zigarettenaktionen erzählt.

Abgeholt hat die fertig besohlten Schuhe mein Vater. Ich glaubte, ihn nicht mehr wiederzuerkennen. Hat der mich verhauen! Er war vor Aufregung so aus der Puste, dass er sich nach ein paar Schlägen hinsetzen musste. Das habe ich ausgenutzt und bin wie ein Wiesel mit den Schuhen in der Hand raus gerannt. Ich wollte weg von zu Hause, aber wohin? Nachdem ich viele Stunden herum gelaufen war, hatte ich Hunger. Ich bin erst mal zur Oma gegangen, dort gab es was zu essen. „Und du schläfst heute Nacht bei mir auf dem Sofa. Vater ist schon hier gewesen, ich weiß Bescheid. Du bist genauso ein Dickkopf wie der früher war.“

Dazu bekam ich die Anweisung, am nächsten Morgen nicht in die Schule zu gehen, sondern in die Kleiderfabrik, Garn und Knöpfe zu holen. Zu Hause angekommen, musste ich gleich Faden ziehen, eine Arbeit, die ein Schneiderlehrling machen muss. Um 12 Uhr habe ich zwei fertige Stücke, in ein schwarzes Tuch gehüllt, zur Fabrik tragen müssen. Dazu gab es die Anweisung, den Meister zu bitten, noch etwas langer zu warten. Vater würde mit noch zwei Mänteln nachkommen.

Etwa zwei Stunden lang hab ich mir das Gejammer des Schneiders anhören müssen. Endlich tauchte Vater auf und legte seine, mir schon lange bekannte, Platte auf. Irgendetwas in der Familie sei nicht in Ordnung. Das Material sei so schlecht, der Zuschnitt so mangelhaft. Alle hatten Schuld nur er selber nicht.

Um endlich Feierabend zu haben, machten die Abnehmer meist beide Augen zu. Erst von der Minute an, als Vater das Geld in der Hand hatte, versiegte der Redeschwall. Dann ging es ab in das teuerste Kaffee der Stadt. „Du hast Dir einen Kakao redlich verdient“, hieß es dann plötzlich. Einige Kellnerinnen hatten schon mit Bangen auf ihr Geld gewartet. Nachdem sie die Hälfte der Außenstände erhalten hatten, wurde eine neue Bestellung angenommen. Am nächsten Samstag das gleiche Spiel, nur wurde dann ein anderes Lokal gewählt. Auf diese Weise habe ich fast alle schönen Kaffees in Elberfeld kennen gelernt.

Nach einer Tasse Schokoladen ging es ab nach Hause, damit ich noch einkaufen konnte. Ich hatte immer eins von den Schuldbüchern dabei, meistens das von dem Kramer, der schon am längsten auf sein Geld gewartet hatte. Nachdem ich es Vater präsentiert hatte, wurde ich mit der Hälfte des ausstehenden Betrages losgeschickt, die hungrige Familie zu beglücken.

Nur einmal habe ich den Fehler gemacht, den ausstehenden Betrag zuerst zu bezahlen. Da musste ich ohne Waren gehen. Schlauer geworden, habe ich erst das Geld vorgezeigt und meine Bestellung in bar bezahlt. Erst dann habe ich das Geld mit dem Buch hingelegt, mit der Bitte, den Rest zur Tilgung der anstehenden Rechnung zu verwenden. Da die Krämer immer öfter böse wurden, habe bei solchen Missionen meine HJ-Uniform angezogen. Wie ich es bei Vater schon gesehen hatte, werden Uniformierte besser behandelt. Ohne Uniform half nur meine Leidensmiene. Wäre die in der Schule benotet worden, hatte ich meine Zeugnisse entscheidend verbessern können.

Richtigen HJ-Dienst brauchte ich so gut wie keinen zu machen, da ich zu Hause laut Vater unabkömmlich war. Das Wort des alten Parteigenossen hatte noch Gewicht. Ich hatte auch wirklich keine Zeit für die HJ gehabt. Im Sinne der Partei war der Erhalt der Familie oberstes Gebot und ich somit immer im Dienst. Mutter war froh, wenn ich im Hause blieb und ihr zur Hand ging.

Erst viel später habe ich eingesehen, was sie alles durchmachen musste. In dieser Zeit die vielen Kinder sauber zu halten, war nicht einfach. Alles wurde mit der Hand gewaschen. Die immer gegenwärtigen Stoffwindeln mussten nach jedem Gebrauch gekocht werden. Meistens war nur ein Wasserhahn in der Wohnung vorhanden. Gekocht, gewaschen, gebadet, gebügelt, wurde alles in der Küche und alles mit einem offenem Feuer im Herd.

Meine Hauptaufgabe war, jederzeit für genug Glut in der Küche zu sorgen und damit die Bügeleisen warm zu halten. Kein Stück Holz auf der Straße war vor mir sicher. Wer weiß, wie viele Eimer Kohle und Briketts ich vom Kohlenhändler holen musste. Dann musste die Asche runter. Vater hat sich um solche Arbeiten nicht gekümmert, so hab ich Mutter so gut ich konnte geholfen. Sie hatte furchtbar raue und harte Hände vom vielen Waschen auf der Ruffel. Die Fingerkuppen waren zerstochen von der Nähnadel.

Eines Morgens, weit vor fünf Uhr, hat Vater sie aus dem Bett geholt. „Los Liese stepp endlich mal die Kragen ab, ich brauche die sofort.“ Mutter hat sich noch halb schlafen an die Maschine gesetzt und sich die prompt die Nadel in die Hand genäht. Die Nadel brach ab und Spitze blieb im Kleinfingerballen stecken. Sie war nicht mehr zu sehen, geschweige denn heraus zu pulen.

Vater wurde blass. Nicht vor Schrecken, sondern vor Wut. „Ich muss erst mal an die Luft, sonst ersticke ich hier bei soviel Dummheit aufn Haufen.“ Er warf seinen Mantel über und ging, um Dampf abzulassen.

Und was war mit Mutter? „Komm Mama du musst ins Krankenhaus sagte ich ängstlich.“ Sie schüttelte nur mit dem Kopf: „Lass mal mein Junge, die Nadel kommt irgendwann schon wieder raus“. Sie muss große Schmerzen gehabt haben, „Ich kann doch nicht auch noch weglaufen“, sagte sie resigniert.

Tatsachlich kam die Maschinennadel wieder raus, ganz von selber, allerdings erst nach fünf Jahren und am Ellenbogen.
Irgendwas kratzte da beim Waschen. Mama rief: „Karl komm mal her, bringe eine Zange mit.“ Ein kurzer Ruck und eine lange Reise war zu Ende.

Mutter war der ruhende Pol in der Familie. Sehr selten erzählte sie uns Kindern von Ihrer eigenen Jugend. Sie war der Meinung, dass wir alle noch gut im Leben abschneiden würden. Das konnte ich mir kaum vorstellen. Alles sah danach aus, als würde es noch schlechter werden, als würde es noch mehr Hunger geben, noch mehr Ungewissheit über das Morgen.

Vater konnte wegen des Gerichtsvollziehers das Haus nur noch von hinten durch den Keller betreten. Geprellte Kunden und Lieferanten von Schneiderei-Artikeln standen vergeblich auf der Matte. Ich bewunderte immer wieder, wie Mutter die Ruhe behielt. Sie hat die kleine Eva auf den Arm genommen und ist an die Tür gegangen. Sie bat die Leute in die Wohnung und bot ihnen einen Kaffee an, der natürlich nur Muckefuck war. Auf allem, was pfändbar war, klebte schon der Kuckuck. Vater schien das alles nicht unter die Haut zu gehen. Der hatte bestimmt schon wieder ein As im Ärmel.

Eine Antwort to “Auf dem Weg nach Hamburg”

  1. m.rohlfing Says:

    Hallo lieber Herr Dehnert,Ihr Sohn war so nett und hat mir die Internetseite gesagt,und nun endlich habe ich mir die Zeit genommen ,mal etwas herumzustöbern.Sie erinnern sich vielleicht noch an Ihren Aufensthalt in der Rheuma Klinik Bad Bramstedt ,da habe ich Ihr Zimmer sauber gehalten(hoffe ich jedenfalls):)
    Ich finde es ist alles interessant und toll gelungen.
    Beeindruckend!

    Liebe Grüße Michaela Rohlfing

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