Fürs Leben lernen

Zurück in Elberfeld musste ich zur Schule. Das gefiel mit gar nicht. Mein Holländisch war plötzlich nichts mehr wert und mit den Lehrern musste ich Deutsch reden, was ich nur schlecht beherrschte. Ich habe gestreikt, tagelang konnte ich nicht mehr sitzen, so wurde mir der Hosenboden verbläut. Ich wurde für ein Jahr zurück gesetzt. Erst mit der Zeit habe ich mich an die neue Umgebung gewöhnt.

Wir wohnten in der Gerstenstrasse, über einer Schreinerei. Die Miete zahlte die Partei, solange die Einnahmen aus Papas Schneiderei nicht ausreichten. Es mussten jetzt vier Dehnerts versorgt werden. In Holland war Hans geboren worden.

Wir waren nun oft ohne Vater. Der machte Reisen für die „Braune Firma“. Oft kam er müde und abgerissen nach Hause, heimlich in der Nacht, seine Uniform schon auf der Treppe ausgezogen. Mutter war gut getrimmt und hatte schon normale Kleidung bereit gelegt. Immer häufiger kamen schwere Stiefel die Treppe herauf gepoltert: „Aufmachen Polizei!“

Mutter ging dann im Nachthemd an die Tür, wir Kinder schrieen. Mit Taschenlampen leuchten die Beamten alle und alles an. „Wir tun nur unsere Pflicht“.

Der Hauswirt, der selber im zweiten Stock wohnte, hatte dann des öfteren seinen großen Auftritt: „Wat wollen die Schandarme schon widder he? He wohne arme Lüd, de arbeede bloß. Verdek noch eens, passt me lebber uf dä Rode acht. De Os klauen mein Holz! Habt He nix anders zo dun, we anstandig Lüd ob de Füss upston“

Papa meinte zufrieden: „Der Bursche ist in Ordnung. Hält mir die Plattfüße vom Hals, und ’ne warme Bude haben wir auch von seinem Bruchholz, hi hi“.

Von der Herumtreiberei mit der SA hatte er dann doch bald die Nase voll. Es brachte auch nichts mehr ein. Die Gelder der Partei flossen immer spärlicher. Dafür wurden wieder mehr Schneider gebraucht. Im Vorderhaus wollten einige Leute ihre Garderobe aufgebessert haben. Endlich ein normales Leben in der Familie. Für die SA wurde nur noch mit Nadel und Zwirn gearbeitet, aber die Partei ließ ihn nicht so schnell nicht wieder vom Haken.

Das Verhältnis hatte sich aber getrübt. Vieles hatte sich geändert, meinte Papa. „Dat Intellekt“ sei am Ruder und alle bekamen jetzt die schönen Posten, nur er nicht. „Den Karl Kaufmann (späterer Gauleiter von Hamburg) habe ich aufm Buckel aus der Saalschlacht zum nächsten Krankenhaus geschleppt. Ohne mich war der Garnichts mehr.“

Immer hörte ich ihn über den „Hinkepoot“ (Gobbels) herziehen und die „Runenheinis“ (SS). Seine alten Kameraden aber gingen ihm immer noch über alles. Sonntags wurde zum Schießen marschiert. Sogar in der Wohnung wurde geübt. „Karl, nich vor de Kinder“, bat Mama oft, zwecklos allerdings. „Ich muss doch üben, wenn dat bald losgeht.“

Einmal sah ich, wie Vater den Revolver in den Küchenschrank einschloss, und sich den Schlüssel in die Tasche steckte. Nachmittags gingen alle spazieren, nur ich blieb mit Bauchweh im Hause. Das war die Gelegenheit, den Ballermann auszuprobieren. Wie aber die Tür auf machen? Alle Schlüssel in der Wohnung wurden ausprobiert. Siehe da, der Nachtschrankschlüssel passte. Ich konnte aber machen, was ich wollte, das Ding ging nicht los. Dann hab ich es mit einem Hammer versucht, wieder ohne Erfolg.

Einige Tage später hörte ich Vater sagen: „Ich möchte gern wissen, wie die Kerben hier auf die Knarre kommen“. Erst nach ein paar Wochen kam alles raus. Vater hatte seinen Schlüssel verloren und versuchte verzweifelt, die Schranktür zu öffnen. Naseweis wie ich war, sagte ich ohne zu überlegen: „Ich weiß einen Schlüssel der passt.“ Klar, dass es statt Dank Dresche gab. Mutter ging dazwischen: „Hast selber Schuld, Karl. Warum bringst du solche Dinger mit in die Wohnung. Was hätte alles passieren können.“ „Hast recht, bei so einem Bengel ist alles möglich.“

Im Vorderhaus hatte ich einen guten Freund gefunden. Einmal auf dem Heimweg rettete ich ihn vor einem Haufen Pimpfe. Von seiner Familie wurde ich wie ein Held behandelt. Die Mutter beglückte mich mit einem guten Mittagessen. Sie sei froh, wenn ich jeden Tag komme, um mit Dev zu spielen. Das tat ich gerne. Ihre Warmherzigkeit tat mir gut.

Dev und ich haben von da an vieles gemeinsam gemacht. Oft sagte seine Mutter: „Bleibe zum Essen und zeig Dev, wie ein Junge essen kann“. Das brauchte Sie nicht zweimal sagen. So eine gute Kost hatte ich selten gehabt. Auch meine Kleidung wurde aufgebessert. Abends durfte ich nicht mit leeren Händen nach Hause gehen. Süßigkeiten, mal eine Wurst oder Gekochtes im Topf. Vater sah das nicht gerne, waren Devs Eltern doch Juden, aber auch er hat es sich schmecken lassen.

Eines Sonntags am frühen Morgen wurde in ich meiner Dachkammer von meiner selbst gebauten Alarmanlage, ein paar leere Dosen im dunklen Hauseingang, geweckt. Ich guckte aus dem Fenster und sah dann zwei Männer in Zivil. Einer von den beiden kletterte zum Fenster von meinem Freund David. Der Andere reichte einen Schuhkarton rauf, der auf dem Sims deponiert wurde. Dann ging alles sehr schnell. Ein lauter Knall und das Fenster gab es nicht mehr.

Ich wusste, dass mein Freund glücklicherweise an diesem Morgen nicht zu Hause war. Ich rannte zu meinem Vater: „Das waren Onkel Kurt und der Friedrich.“ „Sofort bist ruhig!“ blaffte er mich an. „Du hältst den Mund. Hast du verstanden? Nun komm und ziehe dich an. Wir müssen hier weg, sofort.“ Eine Stunde später war ich bei meiner Oma untergebracht.

In der Schule lief es nach wie vor nicht so gut. Ach was heißt die Schule. Ich ging in jede Menge Schulen. Irgendwann waren es denn dreizahn. Ich wechselte so oft, weil ich in der Familie herumgereicht wurde. Mal wohnte ich bei der Oma, mal bei einem Onkel, mal in einem Heim. Beinahe jedes Mal war ein Schulwechsel fällig. Manchmal wurde ich auch einfach zwischendurch umgeschult, weil es Papa in den Sinn kam. Ich lernte die unterschiedlichsten Lehrmethoden kennen.

Eines war überall gleich: Schreiben auf der Schiefertafel. Meine Güte dieses Gequietschte. Vor lauter Angst oder Wut hatte ich immer nasse Hände. Auf einem feuchten Schiefer ging dann überhaupt nichts mehr. Nachsitzen und üben! Hundert mal das große „W“ in Sütterlin. Zur Not wurde die Hand mit dem Stock geschmeidig gemacht. Schläge gab es auch an den Kopf, „hinter die Löffe.“ Da spritzte mein Schweiß über das Jackett des Lehrers. Immer wenn ich erregt bin, lauft mir das Wasser nur so vom Kopf. Vor lauter Wut hat einer sein Lineal auf meinem Kopf zerbrochen.

Oma hat die Beule entdeckt und Vater kommen lassen. Am nächstem Morgen hörte ich in der zweiten Stunde schwere Stiefel auf dem Flur. Die Tür wurde ohne Klopfen aufgerissen. „Heil Hitler“, brüllte mein Vater, der in vollem Wichs in der Tür stand. „Kommen Sie mal raus, Sie! ich habe mit Ihnen zu reden und das sofort, verstanden?“ Was war das für eine Aufregung danach, nur gut, dass ich auch in dieser Schule nicht lange bleiben brauchte.

Es ist wohl klar, dass sich bei dieser „Schulkarriere“ meine Leistungen sich nicht gut entwickeln konnten. So war ich für jede Abwechslung dankbar. Ein Klassenlehrer hat dann meine echte Begabung entdeckt. Das Einkaufen, das „Organisieren“ das hab ich wirklich gelernt. Das Wissen, wo man sich anstellen musste, in welchem Laden man für das knappe Geld das meiste in bester Qualität bekam war zu Hause lebenswichtig und jetzt auch im Schuldienst gefragt.

Der erwähnte Klassenlehrer war auch Direktor der Schule und hatte seine Wohnung im Schulgebäude. Oft schon nach der ersten Stunde, drückte er mir einen Zettel in die Hand, zusammen mit dem Rat, mir nur Zeit zu lassen. Dann durfte ich losziehen mit Tasche und Geld. Alles wurde gewissenhaft erledigt. Die Zigarren von Tabak-Brauer, zwei Straßen weiter. Da gab es immer ein Klümpchen. Butter von der Molkerei, Brötchen von der Stadtbäckerei. Gemüse nur frisch vom Markt. Mir war kein Weg zu weit, denn ich hatte keine Eile, zurückzukehren. Zurück zu weiteren Niederlagen und noch mehr Schweiß.

Am Freitag gab es immer was Leckeres. Der Herr Schulleiter machte dann nach Schulschluss immer seine Runde durch die Klassen. Um nachzusehen, ob etwas liegen geblieben sei. Meistens waren es jede Menge Butterbrote, die von nicht hungrigen Kindern dort achtlos liegen gelassen worden waren. Alles wurde dann sorgfältig eingesammelt und zur Ehefrau gebracht. Die Gute hat alles noch einmal nachgesehen, das Schlechte weggemacht und alles auf einen Teller angerichtet.

„So Martin, nun komm mal her und hau rein. Du bekommst noch Milch dabei, damit es besser rutscht“. Schuleiter und Schulleitergattin setzten sich dann zu mir und schauten zu. „Meine Güte, kann der Junge essen.“ Der Rest wurde mit Obst eingepackt, für zu Hause.

Bild oben Martin und Hans 1932

Eine Antwort to “Fürs Leben lernen”

  1. Björn Says:

    Hallo Opa,
    deine Seite ist dir wirklich gut gelungen.
    Schon die ersten Seiten sind sehr interessant zu lesen.
    Mache weiter so…
    Liebe Grüße,
    Björn

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