Valentinskamp

Wir mussten mal wieder die Wohnung wechseln. Der einzige Vorteil wäre gewesen, wenn ich die Schule hätte wechseln können. Aber ich hatte die Rechnung ohne meinen Papa gemacht: „Du hast so oft die Schule wechseln müssen, nun bleibste mal da.“

Wenn Papa nur einmal den neuen Schulweg mit mir gelaufen wäre. Eine gute Stunde brauchte ich und ständig waren neue Schuhsohlen fällig. Aber was waren meine Sorgen gegen die meiner Mutter. Unser Ernährer hatte mal wieder alles hingeschmissen. Von seiner Angestelltenposition wurde er entfernt. Ein drohendes Disziplinarverfahren wurde von seinem Freund, dem Statthalter abgewürgt. Ich war dabei, als sein Kamerad aus alten Tagen ihm auf die Schulter klopfte und sagte: „Ich kann nichts mehr für dich tun, mein Lieber.“

Wenigstens bekamen wir eine schöne große Wohnung am Valentinskamp in Sichtweite der Musikhalle. Sie lag im vierten Stock und hatte kein Bad. Es gab nur einen Wasserhahn in der ganzen Wohnung. Für mich war wichtig, dass sie mitten in der Stadt und nahe am Hafen war. Hier hatten wir viel Platz und wir sollten bis 1950 hier wohnen.

Für den Haushalt brauchte ich nicht mehr so viel zu machen. Hans und Liesel konnten schon einiges übernehmen, wenn sie mal zu Hause waren. Friedel konnte man auch schon alleine auf die Straße lassen. Nur Eva war noch im Krabbelalter und musste noch Windeln tragen.

Mutter bekam zweimal eine Einweisung in ein Muttergenesungsheim. Für diese Zeit wurde uns ein Pflichtjahrmädchen zugeteilt. Diese Freiwilligen haben mir mehr Arbeit gemacht, als sie mir abnahmen. Ich habe Vater gesagt er solle die „Weiber“ an die Luft setzen. Ich kam sehr gut ohne Hilfe zurecht. Am Abend, wenn Vater von der Arbeit kam, stand das Essen schon auf dem Tisch. Die Wäsche war gewaschen und seine Hemden und Taschentücher gebügelt.

Vater lachte und sagte: „Warum bist du kein Mädchen geworden, du machst das wunderbar.“ Ich machte, was ich konnte, um nicht in diese Tretmühle von Schule zu müssen. Vater wollte seine Gemütlichkeit und keine fremde Leute in der Wohnung und ich brauchte nicht in die Schule. Ich denke diese Wochen waren für mich einige der schönsten in der Familie. Ich hatte eine Aufgabe, die mir Freude machte, da wurde mir keine Arbeit zu viel. Beim Abendbrot bin ich schon am Tisch eingeschlafen, so müde war ich. Ich genoss die Freiheit, obgleich die Verantwortung und die Mühe nicht leicht waren.

Nur einige Unterführer der HJ, die wie die Flut immer wieder kamen, störten meine Ruhe. Sie wollten mich zum Dienst abholen. Die Kerle abzuwimmeln wurde nicht leicht. Einmal hörte ich die Horde schon die Treppe rauf kommen. Ich hatte zufällig eine randvolle Windel zur Hand. Da war meine Chance für einen großen Auftritt. „Bitte Kameraden nehmt doch mal ’ne Nase voll mit.“ Die Anwärter der Herrenrasse haben sich unter Protest zurückgezogen. „Wenn ihr Strategen einen Ersatz für mich findet, der meine kleine Schwester trocken legt und füttert, komme ich gerne mit.“ Die Kerle haben mich eine Weile in Ruhe gelassen.

Eine schöne Zeit hat leider auch ein Ende. Mutter war wieder bei uns und ich musste wieder zur Schule. Ich kam gerade zurecht, um bei den Vorbereitungen zur einer Klassenfahrt in die Eifel mitzumachen. Geplant war eine zwei Wochen lange Wanderung von einer Jugendherberge zur anderen, rund um Maria Laach und die Nürburg. Wandern mit Rucksack und Brotbeutel, darin war ich plötzlich der Klassenbeste. Kartenlesen, Rucksacke von anderen schleppen und den Wimpel tragen. Nun war ich der liebe Junge der alles machte und konnte. Die Lehrerin hat mich mehrmals gefragt: „Wirst du nie müde?“ Was sollte ich darauf antworten, für mich war das alles nur ein Spaziergang. Aber ich wollte Sie nicht unnütz ärgern, ich antwortete nur: „Alles Gewohnheit, diese Tagesmärsche waren früher mein täglicher Schulweg!“ Sie hat nur den Kopf geschüttelt.

Im November 1938, zwei Wochen vor meinem Geburtstag, brannte es überall in der Stadt. Vater hat uns befohlen, zu Hause zu bleiben. „Die Kerle sind verrückt geworden, jetzt stecken sie schon Kirchen in Brand.“ Das die SA dafür herangezogen wurde, war ihm überhaupt nicht recht. Er schimpfte den ganzen Tag. Zweimal ist er kurz auf die Straße gegangen. Als er zurückkam, roch er stark nach Rauch. „Da haste keinen von der alten Garde gesehen. Nur besoffene junge SA Leute und HJ. Die sind vollkommen aus dem Häuschen, die hauen alles im Dutt!“

Mutter war sehr in Sorge um Vater, sie sagte immer wieder: „Nun beruhige dich Karl, und bleib zu Hause. Wenn dich einer hört kriegst noch Schwierigkeiten.“

Wir sind alle früh zu Bett gegangen. Am anderen Morgen hat Vater sein Parteiabzeichen in die Brieftasche gesteckt. Vaters politische Ambitionen hatten sich über Nacht umgewandelt in Religiösität. Ich musste ab sofort in den Konfirmandenunterricht und wurde Mitglied des Kirchenchores.

Der Unterricht war hart für mich. Noch vor Schulbeginn musste ich meinen Katechismus herunterleiern. Im Chor war ich gut, hier habe ich auch Geld verdient. Bei Hochzeiten und Trauer gab es fünfzig Pfennig Gage.

Dann hat sich noch eine zweite Geldquelle aufgetan. Einkaufen und Bürgersteig fegen für die Nutten in der Winkelstraße. Wenn ich von der Schule kam, hab ich die Einkaufzettel der Damen eingesammelt und bin los gezogen. Zwei Einkaufsnetze hatte ich immer im Ranzen.

Das war wirkliches Einkaufen! In den besten Feinkostläden war ich ein gern gesehener Kunde. Überall gab es ein Stück Wurst oder Kuchen extra. Alles wurde schnell und gewissenhaft erledigt. Mit Lob haben die Damen nicht gespart. „Ist der nicht süß, kuck mal der ist ganz aus der Puste. So ist noch kein Kerl für mich gerannt.“

So hatte ich genug Geld, um mir Lesestoff zu besorgen. Für 10 Pfennig gab es zwei Tom-Mix-Hefte oder Jerry Cotton. Hatte ich erst ein paar Hefte durchgelesen, konnte ich tauschen. So wurde das Lesen meine große Leidenschaft.

Um ins Kino zu gehen, war mir kein Weg zu weit. Ich habe des öfteren die Schule dafür geschwänzt. Auf der Reeperbahn wurde schon um 10 Uhr morgens die erste Vorstellung gegeben. Von der Davidswache bis zum Millerntor waren auf der einen Seite der Straße sechs Filmtheater. Nachdem ich den ersten Film gesehen hatte, bin ich über die Straße ins Automatenrestaurant. Für zwei Groschen konnte man hier ein belegtes Brötchen aus der Klappe ziehen und für fünf Pfennig ein Glas Fassbrause, aus einem Hahn selber zapfen.

Es war eine schöne Zeit. Wir hatten keine Not, wenn Vater arbeitete. Mutter war auch zufrieden, weil die halbe Familie immer unterwegs war. Die Kinderlandverschickung war für sie eine große Erleichterung. Einmal war Mutter zwei Wochen lang auf einer Rundreise unterwegs, um ihre Kinder zu besuchen. Bahnfahrt und Taschengeld und Verpflegung, alles wurde großzügig zur Verfügung gestellt.
So hat sie einen großen Teil von Deutschland kennen gelernt. Vater war das überhaupt nicht recht. „Nun musst du, mein Junge, wieder für die Kleine sorgen.“ Im Grunde meinte er sich selber. In Haushaltsdingen war er doch sehr unbeholfen.

Es war kurz vor Ostern, als ich zur Schule zurück kam. Meine Lehrerin war sehr ungehalten. Du bist während der Schulzeit in der Stadt gesehen worden. Das wäre ein Fall für den Herrn Stock.

Draußen auf dem Flur wurde ich schon erwartet. Ich weiß nicht was mit mir war, ich bin ohne Widerspruch in Position gegangen. Mir ging es so wie dem Kaninchen mit der Schlange. Wie in Zeitlupe lief bei mir der Film ab. Ich gab mir selbst diese Strafe, weil ich nicht schon früher darauf gekommen war, wie aus dieser Penne heraus zukommen ist. Nach vorne gebeugt die Hände an die Knie, wartete ich auf den Folterknecht.
Ich spürte zuerst den Stock im Nacken. Mit kurzen Schlägen wurde angedeutet, ich solle mich noch mehr vorbeugen. Dann dieser zischende Laut und der Blitz schlug auf meinem Hintern ein. Ich habe einen Satz nach vorne gemacht, der Stock kam hinterher. „So schön runter. Auf ein neues, wir sind noch nicht fertig.“ Irgendwann kamen wir in die Nähe der Treppe. Der Stock ging rauf in die Höhe, ich die Treppe runter. Vor Wut hab ich gebrüllt und bin mit Volldampf rausgelaufen. Die Schule habe ich nie wieder betreten.

Vater wollte los, als er mein ramponiertes Hinterteil gesehen hat. Aber ich hab ihn gebeten, doch für ein paar Tage ruhig zu halten. Der erwartete Brief kam zwei Tage später. Mir wurde mitgeteilt, dass ich in die Schule am Holstenwall strafversetzt sei.

Endlich war ich dort, wohin ich schon lange wollte. Vom ersten Tag an hat es mir dort sehr gut gefallen. Ich war nun in einer Knabenschule mit netten Lehrern ohne Parteiabzeichen.

Vom normalen Schulbetrieb war nicht mehr viel zu merken. Wir großen wurden für alle möglichen Sammelaktionen eingespannt. Spinnstoffe und Altmaterial wurde von Haus zu Haus zusammengetragen. Wir waren alle froh, als endlich die Ferien kamen.

Es wurde ein schöner Sommer. Ich war viel in Planten und Blomen am Dammtor. Hier gab es immer was zu erleben. Große Tanzkapellen mit Varietetheater und schönen Mädchen haben mich begeistert. Eintritt habe ich nie bezahlt, mit ein wenig Fantasie kommt man überall rein. Für mich war es die schönsten Ferien meiner Schulzeit. Überhaupt waren alle Leute so fröhlich und glücklich.

Auch in der Familie lief es mal rund. Den ganzen Sommer über war nur Eva bei uns. Alle anderen waren noch über halb Deutschland verteilt. Mutter ging zu meinem Erstaunen wieder gerne unter Menschen. Sie machte die meisten Einkäufe selbst. Daher hatte ich ein mehr Freiheit.

Für meinen Lesehunger gab es unerwartet neues Futter. In einem unbewohntem Haus haben ein paar andere Jungs und ich einen Keller als Versteck benutzt, um heimlich zu rauchen. Eines Tages, als wir Brennholz für unser kleines Öfchen suchten, fanden wir in einem Bretterverschlag unter einer Kellertreppe, Berge von Büchern, gut abgedeckt mit Dachpappe.

„Das sind bestimmt verbotene Bücher. Die hat jemand hier versteckt, Das müssen wir melden!“ sagten die einen. „Ach was,“ sagten die anderen, „die gehören jetzt uns.“

Nach einigem Hin und Her war die Mehrheit fürs Melden. Am nächsten Tag wollten wir sie dem Wachtmeister Karas, der ständig an der Ecke stand, zeigen. Wie es dunkel wurde sind wir alle nach Hause gegangen. Nur ich nicht, nach einer kleinen Weile ging ich wieder runter in den Keller. Meine Neugierde war zu groß, ich musste mir die Bücher noch einmal genauer ansehen. Mit Vaters Taschenlampe und einer großen Einkaufstasche ging es ab in den Keller auf Schatzsuche. Die Gier auf etwas Lesbares war größer wie meine Angst. Ich hab Bücher geschleppt, bis ich nicht mehr konnte, alles rauf in meine Dachkammer und unters Bett damit.

Die Schule war noch uninteressanter geworden. Es gab fast nur noch Politik. Stundenlang starrten wir auf ein Radio, hörten Führerreden oder Berichte vom Italienischen Bündnis, vom Spanischen Bürgerkrieg und dem Japanisch-Chinesiche Krieg. Es war sehr unruhig in der Welt geworden.

Zu Weihnachten war die Familie wieder zusammen. Einige hatten unseren jüngst geborenen Bruder noch nicht gesehen. Jürgen hatte sich zu uns gesellt. Nun waren wir zu sechst, vier Jungs, zwei Mädchen.
Mama bekam das Mutterkreuz ich ein blaues Auge und einen lockeren Zahn. Ich prügelte mich mit ein paar Freunden auf der Straße, weil sie ihre Witzchen über diese Auszeichnung machten, die Nahkampf-Spange.

Mutter war zweimal kurz im Krankenhaus und im Genesungsheim. Da gab es turbulente Wochen zu Haus. Nun hatten wir schon zwei Pflichtjahr-Mädchen in der Wohnung. Eine besorgte das Kochen und versorgte die Kleinen. Die andere machte das Grobe.

Vater meldete sich für einen lange Ausbildung im Sanitärdienst. Seine Begeisterung war nicht groß, aber das Entgelt nicht schlecht. So war etwas in der Kasse. Es machte wieder Laune, für die Familie einzukaufen. Nach erfolgreichem Abschluss seiner Ausbildung als Sanitäter, wurde Vater für eine höhere Laufbahn vorgeschlagen.

Allerdings wurde jetzt ein Ariernachweis verlangt. Da fand sich ein Haar in der Suppe. Über Mamas Großvater fanden sich keine Unterlagen. Sehr verdächtig!

Mutter und ich wurden vor eine Ärztekommission zitiert. Alles wurde geprüft und mir der Schädel vermessen. Nach einer Woche wurden wir ein zweites Mal begafft und fotografiert. Mutter war böse und fragte: „Bekommen wir beide noch einen Stern, oder können wir endlich nach Hause gehen?“
Sie bekommen schon Bescheid, wann sie gehen können, sagte so ein Weißkittel. Ich sprang auf und fragte meine Mutter: „Soll ich den mal vors Schienbein treten“? Mutter : „Das wird nicht nötig sein, wir können jetzt gehen nicht wahr mein Herr.“

Der war sprachlos und nickte mit dem Kopf. Wir haben unser Klamotten geschnappt und raus aus der Tür. Draußen auf dem Flur haben wir uns erst vollständig angezogen. „Du bist mir vielleicht einer“, grinste Mutter, „das hier wollen wir schnell vergessen.

In dieser Sache haben wir nichts mehr gehört. Nur Vater wurde nicht befördert oder zu einem neuen Lehrgang einberufen. Er musste wieder arbeiten. Seine Kenntnisse, wie ein Kinderreicher zu Geld kommt, waren immer besser geworden. Seine Lieblingsbeschäftigungen war es, die Sozialämter abzuklappern. Das wurde ihm nicht zuviel.

In der Schule wurden Gasmasken verteilt. Wir mussten üben, die Dinger aufzusetzen und geordnet in den Luftschutzkeller zu marschieren. Die Klassenzimmer wurden mit Sandeimern ausgestattet, die Handhabung von Wasserpatschen und Handspritzen trainiert.

Im eigentlichen Unterricht wurde dann klar, warum so was nötig war. Das Sudetenland wurde „befreit“, später die Rest-Tschechei besetzt.

Eines Tages tauchte ein Harpunier vom Walfangschiff „Walter Rau“ in der Klasse auf und brachte einen Film mit. Auch das war Kriegsvorbereitung. Er zeigte uns, was aus einem Wal alles gemacht werden kann. Er ließ auch gleich für jeden Schüler ein Pfund Wal-Margarine da.

Die Wahlfängerei wurde uns als Heldenkampf dargestellt, als Einsatz stahlharter Männer an der Ernährungsfont. Es wurden 1300 Wale erbeutet. Wir mussten einen Aufsatz darüber schreiben. Vater hat mir geholfen. Irgendwie hat sich das Wort „abgeschlachtet“ in unser Werk eingeschmuggelt. Ich musste alles noch einmal neu schreiben und das Wort erbeutet benutzen und es jedes mal unterstreichen.

Ein weiteres Nachspiel gab es mit der Wal-Margarine. Vater wollte Pfannkuchen für die Familie machen. Die Pfannen standen auf dem heißen Herd bereit, in die erste wurde schönes Stück vom Wunderfett geworfen. Ein lautes Zischen, ein lauter Fluch und der Herd stand in Flammen. Der Fischgestank war tagelang nicht zum aushalten. Das war nur der Anfang von vielen Ersatzmitteln für den täglichen Bedarf, die uns noch zugemutet werden sollten.

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